Hier sind wir Bürger, nicht Volk

Eine Künstlergruppe hält den Nationalstaat für überholt

von Henriette Kuhrt

"Die Heimat ist nicht das Land, sondern die Gemeinschaft der Gefühle", schrieb der Theoretiker Louis Antoine Saint-Just während der französischen Revolution, und der Künstler Ian Finley ließ diesen Satz 1993, fast zweihundert Jahre nach dessen Hinrichtung durch die Guillotine, in vier verschiedenen Sprachen vor der Hamburger Galerie der Gegenwart in Granit meißeln. Nun hat eine weitere Künstlergruppe diesen Gedanken der Trennung von geopolitischer und geistiger Identität aufgegriffen und Mitte letzten Jahres in München die "Transnationale Republik" gegründet. Die Bürger ihrer Republik entstünden durch die Verwandtschaft im Geiste, heißt es in ihrem Manifest, nicht durch die des Blutes oder des Geburtsortes. In Zeiten, in denen Großkonzerne, Kirchen und Handelsorganisationen die Geschicke der Menschen bestimmten, sei die Frage der politischen Vertretung der Menschen übergangen worden.

Und so sieht sich die Erste Transnationale Republik als eine Art globale Partei, die sich für die Menschenrechte, "transnationale Gerechtigkeitsprinzipien" und das Mitbestimmungsrecht des einzelnen einsetzen wollen. Aber um konkrete politische Forderungen geht es hier auch nicht, die Formulierungen bleiben neutral. Hinter dem Gedanken steckt vielmehr die Utopie, daß es irgendwann mehrere supranationale Vertretungen gibt, die jeder Mensch, unabhängig von seiner Nationalität, wählen kann. Ziel ist die gedankliche Auseinandersetzung mit der Globalisierung und die Möglichkeit für das Individuum, sich zu positionieren und seine Interessen zu wahren.

"Die Macht der großen Zahl" nennt es Jakob Zoche, Kunst-Student und einer der Initiatoren der Republik, "Internetbewegungen wie Napster haben ein Umdenken in der Musikbranche bewirkt, Greenpeace und Amnesty International sind auch nicht staatlich organisiert und können trotzdem politischen Druck ausüben".

1400 Bürger aus verschiedenen Ländern kann die Transnationale Republik schon aufweisen, die diese Verwandtschaft im Geiste teilen wollen. Etwa 400 von ihnen leben in Berlin. Sie haben eine eigene Währung - vier "Payola" entsprechen einem Euro - und eigene Ausweise gestaltet, die auch im Alltag häufig zum Einsatz kommen. Kunst-Studenten der Universität der Künste hatten bei verschiedenen Ausstellungen wie der "Art Forum Berlin" oder auf dem russischen Neujahrsfest im Künstlerhaus Bethanien ein "Bürgermeldeamt" aufgebaut, bei dem jeder Interessierte für fünf Euro, oder eben zwanzig Payola, der Republik beitreten und sich einen Ausweis ausstellen lassen konnte. Doch während die Payola-Scheine sich allein durch Textur, Motive und Aufschriften ("In Sauercrowd We Trust") von den Euro-Scheinen unterscheiden, ist der Ausweis in Farbe und Format dem deutschen Personalausweis nachempfunden. "Viele zeigen nur noch ihren transnationalen Ausweis", sagt Zoche, "wir wollen damit die Frage stellen, wer überhaupt Ausweise ausstellen darf."

Das ist auch schon der Staatsgewalt der konventionellen Bundesrepublik aufgefallen. Bei einer Fahrradkontrolle im nächtlichen Berlin holte der Kunst-Student Tammo Rist seinen transnationalen Ausweis hervor, der umgehend wegen des "Verdachts der Urkundenfälschung" eingezogen wurde.

Auch Niko SchabeIs Ausweis sorgte im bayerischen Innenministerium für Verwirrung. Als der Tontechnik-Student während einer Bahnfahrt von Stuttgart nach München von Zivilbeamten des Bundesgrenzschutzes kontrolliert wurde, wies er sich mit dem transnationalen Dokument aus, den die Beamten kurzerhand einzogen. Diesmal aus "Gründen der Gefahrenabwehr". "Bitte teilen Sie uns mit", heißt es in einem Briefwechsel mit dem Innenministerium und der schwäbischen Polizeibehörde, der auf der Homepage www. transnationale-republik.de dokumentiert ist, "welche Gefahren abgewehrt werden mußten." "Der Ausweis ist geeignet, den Anschein eines amtlichen deutschen Personalausweises zu erwecken", heißt es in der Antwort, der Ausweis würde der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Zwei Monate später kommt sie zu dem Schluß, der "Phantasieausweis" begründe keine Gefahren, und Schabel erhält ihn per Einschreiben zurück.

Doch neben den Auseinandersetzungen mit den Behörden führen die transnationalen Bürger auch kunstbezogene Diskurse, wie die Vortragsreihe mit Themen wie "Der zensierte öffentliche Raum" oder "Unzulänglichkeiten des demokratischen Systems". Wer also der "Gemeinschaft der Gefühle" beitreten möchte, muß nur fünf Euro in Payola umtauschen und ein Paßfoto von sich machen lassen.

Das Bürgermeldeamt in der Galerie Sparwasser hat am 24. Februar in der Torstraße 161 in BerlinMitte ab zwei Uhr geöffnet, die Ausstellung ist noch bis zum 10. März zu sehen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Berliner Seiten
February 23rd, 2002