L’état c’est moi!

Die aktuelle globale politische Struktur, die einer Nation gleicht, in der es keine Landesregierung, sondern nur Lokal- und Regionalparlamente gibt, ist für das globalisierte Informationszeitalter absolut unbefriedigend. Immer vernehmlicher wird der Ruf nach einem demokratisch legitimierten Weltparlament, das sich der dringlichen Fragen von übernationaler Bedeutung annimmt und dessen Beschlüsse für alle Mitglieder der Weltgemeinschaft bindend sind. Auch wenn sich in vielen Staaten – auch in solchen, die sich offiziell „demokratisch“ nennen – wirklich demokratische Praxis bislang noch nicht etablieren konnte, gibt es bereits eine Anzahl von Initiativen, die sich für verschiedene Modelle der überfälligen Weltvertretung einsetzen. In KursKontakte wurde wiederholt von solchen Ansätzen berichtet: vom „Weltsozialforum“, vom „Komitee für eine Demokratisierung der UNO“, von der historischen Bewegung des „Weltföderalismus“ und zuletzt an dieser Stelle von Jakob von Uexkülls Vision eines „Weltzukunftsrats“. (Alle Artikel finden Sie im Internet-Archiv www.kurs-kontakte.de)

Heute möchte ich mit den „Vereinigten Transnationalen Republiken (VTR)“ ein weiteres Modell einer global-demokratischen Struktur vorstellen, das bislang zwar noch eine Art Zwitterwesen aus Kunstprojekt und ernsthaftem politischem Anliegen darstellt, dessen Grundgedanken mir bei allem utopischen Anschein jedoch unbedingt erwägenswert erscheinen.


Das Recht der politischen Vertretung

Als eine langjährige Bekannte des Münchner Flugmotorenentwicklers Georg Zoche 1996 die russische Botschaft aufsuchte, um ihren Pass verlängern zu lassen, wurde ihr dieses Anliegen verwehrt. Sie sei nun schon lange Jahre nicht mehr in ihrem Heimatland gewesen und habe deswegen ihr Anrecht auf die russische Staatsbürgerschaft verwirkt. Der Pass wurde eingezogen, der Status der Frau war mit einem Mal „staatenlos“ – was in bürokratischer Hinsicht oftmals einem „nicht existent“ und/oder „illegal“ gleichkommt.

Die bedrohliche Absurdität des Falls gab in Georg Zoches Freundeskreis Anlass zu Diskussionen über Sinn und Unsinn nationalstaatlichen Denkens, über Menschenrechte und Bürgerpflichten, und schließlich kam man auf die Idee, eine eigene Republik auszurufen, um selbst Pässe ausstellen zu können. Später sollte sich herausstellen, dass es bereits mindestens einen solchen virtuellen Staat gab, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „papierlosen“ Menschen eine neue nominelle Heimat zu geben: der „Regency of Lomar“. Doch der Gedanke an die theoretische Möglichkeit von Staaten ohne eigenes Territorium ließ Zoche nicht mehr los. Offenbar benötigt der moderne Mensch – und vermutlich auch noch der transmoderne – ein Dienstleistungsunternehmen namens Staat, das sich für ihn um gewisse administrative Belange kümmert. Doch warum, fragte sich Zoche, sollte man sich sein Bürgervertretungssystem nicht jederzeit frei auswählen können, etwa in Hinsicht auf den besten Service oder die optimale geistig-politische Übereinstimmung? Wer zum Beispiel als Kind deutscher Staatsbürger geboren wurde, besitzt zwar das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit sowie das Recht der freien Meinungsäußerung, das Recht der politischen Vertretung geht jedoch schon zum Zeitpunkt der Geburt auf den deutschen Staat über (dessen Armee sich folglich auch anmaßt, männliche Staatsangehörige für den Grundwehrdienst zwangszuverpflichten). Wir haben – abgesehen von der Option staatenübergreifend zu heiraten oder zu emigrieren – keine Möglichkeit, unsere Nationalität zu wechseln. Die Willkürlichkeit dieses Systems ist besonders bitter für solche Menschen, die in Diktaturen hineingeboren wurden, oder, wie im Falle von Georg Zoches russischer Freundin, für Menschen, deren „Vaterländer“ sich das Recht herausnehmen, auszusuchen, wen sie vertreten möchten oder wen nicht …

Obwohl einer Forderung der wirtschaftlichen Globalisierer zufolge alles und jeder dem Konkurrenzprinzip des freien Markts untergeordnet werden sollte, besitzen die Staaten nach wie vor das Monopol auf „ihre“ Bürger. In diesem Widerspruch vermuten Zoche und eine Handvoll Mitstreiter den Grund dafür, dass Nationen in der Regel „nur wenig Anreiz“ besitzen, „die eigenen Bürger optimal zu vertreten, da kaum befürchtet werden muss, durch schlechtes Handeln Bürger zu verlieren. Dieser Fall tritt eigentlich erst in einer Krisen- oder Kriegssituation ein oder auch wenn eine Nation Konkurs geht – wie man es am Beispiel der ehemaligen DDR [...] erleben konnte.“ Als ethisches Fundament für ihr Bürgervertretungsmodell einer Welt der Transnationalen Republiken postulierten die Initiatoren deshalb einen zentralen Grundgedanken: „Alle Macht geht vom Einzelnen aus und ist unveräußerbar“ – eine Maxime, wie sie bereits vor über 160 Jahren der Bayreuther Philosoph und Begründer des Individualanarchismus, Max Stirner, formuliert hatte. Würde sie nun als Bestandteil in die internationale Menschenrechts-Charta aufgenommen, so erhielte das Individuum das theoretische Recht zugesprochen, jederzeit die eigene transnationale Vertretung aus der Bandbreite der existierenden Transnationalen Republiken frei zu wählen – oder auch eine eigene Republik zu gründen: „[Jeder muss] für sich den Kompromiss finden, die eigene Meinung optimal vertreten zu wissen und dabei in einer möglichst großen Republik zu sein – die Republik des Eigenbrötlers wird ohne Einfluss bleiben.“

Das Modell sieht vor, dass die Transnationalen Republiken in einem Weltparlament über Fragen verhandeln, die von transnational-globaler Bedeutung sind, also etwa über Menschenrechte, Kriegsverbrechen, Klima- und Artenschutz etc. Die Sitzverteilung des Parlaments soll sich dabei jeweils anteilsmäßig nach dem momentanen Bürgerzahlen der einzelnen Republiken richten.

„Durch die Einführung Transnationaler Republiken erhalten die Menschen dieser Welt eine weitere Bürgerschaft: die flexible Bürgerschaft in einer TransnationalenRepublik ihrer Wahl. Daher kann man das System auch als Erweiterung des föderalen Systems betrachten: Während nationale Belange immer noch von den verschiedenen Nationalstaaten behandelt werden und internationale Belange in der UN diskutiert werden, fallen transnationale (globale) Belange in die Kompetenz der VTR [… Ihre Entscheidungen sind] in diesen Belangen für die Nationen bindend.“

Ein solches System bringt mindestens zwei gewichtige Vorteile mit sich. Zum einen bietet es eine Lösung für das leidige Problem, dass die momentanen Bürgervertretungssysteme namens „Nationen“ offenbar kaum dazu geeignet sind, unser aller Interessen global zu repräsentieren, weil sie schon per Definition Nationalinteressen vertreten müssen, die manchmal den globalen Bedürfnissen scheinbar entgegenstehen – als Beispiel sei hier zum wiederholten Mal die ausstehende Ratifizierung des Klimaschutzabkommens durch die USA genannt. Der zweite Vorteil ergäbe sich für die bislang unterrepräsentierte Sphäre der Zivilgesellschaft, deren zahlreiche Nichtregierungsorganisationen derzeit die Rolle der außerparlamentarischen Opposition gegenüber den verfilzten Interessenslagen der Regierungen und Konzerne einnehmen. „Im Modell der Transnationalen Republiken ist es denkbar, dass Nichtregierungsorganisationen – ähnlich Ministerien – verschiedene Ressorts vertreten, z.B. Greenpeace das Umweltressort oder Amnesty International das Ressort für Menschenrechtsfragen. So würden diese nicht mehr nur im Namen ihrer verschiedenen Protestbewegungen, sondern vielmehr im politischen Auftrag der Bürger Transnationaler Republiken verantwortlich handeln können.“


Die Republik wächst

Ist nun der zunächst ungewöhnlich klingende Gedanke einer flexiblen Republikzugehörigkeit allzu weit hergeholt oder gar utopisch? Keineswegs! Genaugenommen liegt in eben dieser Praxis seit geraumer Zeit der Schlüssel zum Erfolg einer nicht unbedeutenden Gruppe: Die transnationalen Konzerne, die ihre Produktionsstätten und nominellen Hauptsitze mitsamt ihrem Geldvermögen nach Gutdünken von Land zu Land verschieben, je nachdem, wo eine Regierung durch einen besonders guten „Service“ gerade optimale Bedingungen für maximale Profite geschaffen hat – z.B. durch niedriges Lohnniveau, niedrige Umweltschutzstandards oder laxe Steuerbestimmungen. „Dabei müssen sie noch nicht einmal ihren Briefkopf ändern!“ heißt es auf der Internetseite der Transnationalen Republiken „Es reicht vollkommen, den Konzerngewinn buchhalterisch in ein anders Land zu verlegen. Hierdurch werden die Nationen schnell zum Spielball der &Mac226;Global players‘ – es kann ihnen gar nicht mehr gelingen, die Interessen ihrer Bürger gegen die Interessen global agierender Mächte zu vertreten.“

Die Frage, ob wir als Zivilgesellschaft „nicht von Coca-Cola, Shell und Microsoft lernen“ sollten, „wie Interessen global durchgesetzt werden können“, bewegte Georg Zoche letztendlich dazu, am 16. April 2001 gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten den Prototyp einer Transnationalen Republik auszurufen.

Nach Beteiligung der TR-Aktivisten an verschiedenen Kunstfestivals und politischen Events sowie nach gelegentlichen Medienauftritten haben im Verlauf der letzten vier Jahre über 3000 Menschen einen Pass der Ersten TR beantragt – ein Dokument, das wegen seines durch und durch seriösen Erscheinungsbilds auch schon mal anstandslos als Ausweis für innereuropäische Flüge akzeptiert wird …

Überhaupt scheint es, als ob das Spiel mit der offiziösen Fassade der virtuellen Republik den „staatstragenden“ Republikgründern Freude bereitet. Trotz der grundsätzlichen Ernsthaftigkeit des Unterfangens wird es von den Initiatoren zu einem guten Teil als Kunstprojekt begriffen – kein Wunder: Georg Zoches jüngerer Bruder Jakob hat soeben mit Auszeichnung sein Studium an der Berliner Universität der Künste beendet. Für seine Abschlussarbeit ging er der Frage nach, inwieweit die Idee der Transnationalen Republiken als Kunst verstanden werden kann, um sodann im praktischen Teil mit seinem Kommilitonen Tammo Rist in einem Berliner Ladenlokal ein Bürgermeldeamt der Ersten TR aufzubauen. Schließlich wandelten die beiden in ihrer ausgezeichneten Meisterschülerarbeit das Gebäude der Berliner Universität der Künste in den „Sitz der Vereinigten Transnationalen Republiken“ um, so dass auf den ersten Blick nichts mehr an dessen eigentliche Bestimmung erinnerte (siehe oben).

Jakob Zoche legt Wert auf die Feststellung, dass die Kerngruppe der Aktivisten die Erarbeitung von Theorie, Texten, Grafiken usw. in der Regel gemeinsam vornimmt: „Uns interessiert nicht, von wem eine Idee stammt, sondern nur, ob sie gut ist.“ Ganz pragmatisch kümmert sich dann der jeweils Kompetenteste um die endgültige Umsetzung von Internetseiten oder Corporate-Identity-Konzepten für die Vereinigten TR sowie für die „Zentralbank der Vereinigten TR“. – Zentralbank? Erst mit der letztgenannten Institution wird das Modell vollständig: Man erkannte bald, dass es insbesondere unser Geldsystem ist, das tendenziell gegen die Interessen der Zivilgesellschaft arbeitet. Unter anderem wird bemängelt, dass die Bürger im gegenwärtigen Finanzsystem über wenig bis gar keine Möglichkeiten verfügen, in der Weise transnationaler Konzerne große Geldmengen als Druckmittel in die politische Waagschale zu werfen. Um den Menschen auch auf dieser Ebene ein adäquates Werkzeug in die Hände zu geben, ist eine zusätzliche transnationale Bürgerwährung geplant.


Eine globale Bürgerwährung

Spätestens die Tatsache, dass die Erfinder des VTR-Systems über die Einführung einer globalen Bürgerwährung nicht nur nachgedacht, sondern ihre „PAYOLAS “ sogar schon gedruckt und gemünzt haben, macht ihr Konzept zu einer besonders interessanten, wenn nicht gar „runden“ Sache. KursKontakte veröffentlichte in der Vergangenheit wiederholt Beiträge zu den Möglichkeiten komplementärer Währungen; so stellten wir in einem Portrait den Geldexperten und bekannten Buchautor Bernard Lietaer vor, der ausdrücklich für die Einführung von Komplementärwährungen auf der globalen und insbesondere auf der regionalen Ebene plädiert. Und dann kommt eine Handvoll Künstler, erfindet die Struktur der Weltgemeinschaft neu und macht sich gleich eigenhändig ans Werk, den geforderten Veränderungen auf einer halb spielerischen Ebene zu einer ersten Form zu verhelfen. – Ist das nicht kulturell kreativ?

Die PAYOLA ist aus pragmatischen Gründen im Augenblick noch an den Euro-Standard gekoppelt (4 Payolas = 1 Euro); die selbsternannten Zentralbanker möchten für ihre Bürgerwährung jedoch langfristig den Goldstandard wieder einführen, der 1971 von der amerikanischen Notenbank für die Weltwährung US-Dollar kurzerhand aufgekündigt worden war. Seitdem besitzen sämtliche am Dollar hängenden Währungen nur mehr einen fiktiven Wert, was die gesamte Weltwirtschaft bald zu einem Luftschloss werden ließ, in dem täglich ungeheure Mengen Geldes ohne jede reale Wertdeckung verschoben werden: Eine Blase, die jederzeit platzen kann. Für die transnationale Bürgerwährung sind verschiedene Lösungen denkbar, z.B. dem Vorschlag Bernard Lietaers folgend die Deckung durch einen „Warenkorb“: Eine Weltwährungseinheit besäße dann den prozentua-len Wert eines definierten Pakets realer Güter, wie etwa Weizen, Öl oder eine andere Ressource.

Bis zur Realisierung solcher Ideen steht uns als Zivilgesellschaft wohl noch ein längerer Findungsprozess bevor. Die Macher um Georg und Jakob Zoche haben sich einiges vorgenommen. Da wäre zunächst einmal das Erarbeiten eines Verfassungsvorschlags für die Vereinigten Transnationalen Republiken zu nennen, und als erklärtes Etappenziel der Ersten Transnationalen Republik deren völkerrechtliche Anerkennung. Auch die künftige Zusammenarbeit mit einigen der anderen Initiativen für ein globales Demokratiesystem (s.o.) scheint denkbar. Um aber überhaupt erst einmal wahrgenommen zu werden, bedarf die Erste Transnationale Republik natürlich einer wahren Immigrationswelle von Menschen, die ihrem globalen Bewusstsein und ihrer ideellen Unterstützung für das Modell durch einen Einbürgerungsantrag Ausdruck verleihen.

Nicht immer jedoch, so weiß Jakob Zoche zu berichten, ist das Ausstellen eines Passes der Ersten TR unproblematisch – nämlich dann, wenn die Einbürgerungswilligen, etwa nach einer Flucht, tatsächlich überkeinerlei Ausweispapiere verfügen …

KursKontakte
page 42-43
February/March, 2005