LALALA, Der Hymnenchor

von Verena Mayer

Ich stehe in der Staatsbank und singe die nordkoreanische Nationalhymne. Viele Leute hören mir dabei zu, Männer in Anzügen, Damen im Kostüm, Botschaftsattachés mit dem Ausdruck unbeirrbarer Höflichkeit im Gesicht. Das Scheinwerferlicht blendet. Die Frau neben dem Botschaftsattaché im grauen Anzug runzelt die Stirn. Ich blicke sie an und singe lauter.

Das ist kein Traum, das ist Berlin. Genauer gesagt, eins dieser Projekte, die es nur in Berlin gibt, weil hier offenbar jeder das Bedürfnis hat, sich hinzustellen und "Seht her, hier bin ich!" zu sagen, egal, ob der Bundeskanzler vor einem steht oder ein Gemüsehändler. Wenn man Berlin ein kollektives Gefühl zuordnen müsste, so wäre es diese alle Krisen überdauernde Überzeugung, am richtigen Ort das Richtige zu tun.

Das Projekt, zu dem ich gestoßen bin, heißt "I. Transnationaler Fußballchor". Bei meiner Bewerbung hat man mir erklärt, dass daran Leute teilnähmen, die genug hätten von nationalen Identitäten und nun ihre eigene Republiken gründeten. Das seien dann "transnationale Republiken", für die eigene Personalausweise ausgestellt werden, und auch eine eigene Währung, "Payola" genannt, gebe es. Und weil Nationalitäten etwas mit Hymnen und Fußball zu tun hätten, sei man auf die Idee gekommen, dass Freiwillige einen Laienchor bilden und in Sportkleidung vor Botschaftsattachés Hymnen singen. Drei Proben in den Sophiensælen würden genügen, und dann könnten wir uns schon hinstellen vor die Botschaftsattachés. Den italienischen und eine Vertreterin aus Südkorea habe er bereits dafür begeistern können, sagte unser Chorleiter Christian von Borries, während wir die "Marseillaise" auf "lalala" sangen.

Ich trage ein weites graues T-Shirt, das aussieht wie ein Fußballtrikot und mir fast bis zu den Knien reicht. Der Saal der Staatsbank liegt vor mir wie eine Kathedrale, die Gesichter der geladenen Botschaftsangehörigen sind weit weg. Neben mir stehen viele andere Leute in weiten T-Shirts, die wie ich nicht sehr gut, aber laut singen können. Auf meinem T-Shirt ist "Vienna" und "19" zu lesen, denn Wien ist die Stadt, aus der ich komme, und im 19. Bezirk war das Mädchenpensionat, dessen Chor ich angehörte. Eines Tages sagte Frau Professor Spitzer (in Wien werden Lehrer mit dem Professorentitel angesprochen), es sei nun an der Zeit, Grenzen zu überschreiten. Wir fuhren nach Rom. Aber nicht einfach nur nach Rom. Frau Professor Spitzer hatte eine Audienz beim Papst bekommen.

Ich hatte ein buntes Dirndl mit Blümchen an, aus dem ich längst herausgewachsen war. Auch die anderen Mädchen trugen Dirndl, die ihnen nicht passten, weil sie sie von Verwandten geliehen bekommen hatten. Der Saal, in dem der Papst uns empfangen sollte, war riesig und voller Leute. Um uns drängten sich polnische Nonnen, Frauen in bunten Trachten, kreischende Kinder und hysterische Mönche. Es ging zu wie auf einem Markt vor Ladenschluss, wenn alles um die Hälfte billiger ist. Frau Professor Spitzer (ebenfalls im Dirndl) gab den Ton für das "Ave Verum" an. Ich hätte lieber den "Zottelmarsch" oder "Springt der Hirsch übern Bach" zum Besten gegeben, aber Frau Professor Spitzer hatte uns gesagt, der Papst finde Maria besser. Als der Papst kam und auf ein kleines Podium stieg, sah ich nur die obere Hälfte seines Gesichts. Frau Professor Spitzer hob die Arme zum Einsatz, doch im selben Moment begannen auch alle anderen zu singen. Die polnischen Nonnen sangen polnische Gebete, die Kinder Kinderlieder, die Trachtenfrauen Volkslieder in fremden Sprachen. Ich sang falsch, und meine Freundin Lisi stieß mir den Ellbogen in die Seite. Das kümmerte mich nicht, denn in diesem Augenblick sang ich gegen alles an, was um mich war. Frau Professor Spitzer dirigierte dazu, als wollte sie die Nonnen mit ihrem Muskelspiel beeindrucken. Im Papstgesicht war ein gequältes Runzeln zu erkennen. Wir hörten nicht auf. Niemand hörte auf zu singen. Aber wir waren die Lautesten.

Ich stehe in der Staatsbank und schmettere aus voller Kehle "Auferstanden aus Ruinen". Ich bin schneller als die anderen, mein Nebenmann wirft mir immer wieder skeptische Blicke zu. Wir singen die südkoreanische Hymne, die nordkoreanische, die israelische, die französische, die italienische, die südafrikanische, meistens einstimmig und eineinhalb Stunden lang. Und wir haben auch noch eine Zugabe. Die Botschaftsattachés sehen ein bisschen müde aus. Ich blicke in ihre zermürbten Gesichter und weiß: In dieser Stadt bin ich richtig.

Berliner Zeitung
page 9 (Feuilleton)
July 16th, 2002