Wir haben die eine Welt zu gewinnen:

Auf dem Münchner "Make World"-Festival kommt die Linke wieder zu analytischen Kräften

Von Harald Staun

Am Ende sah selbst der Mann mit der orangefarbenen Jacke etwas abgekämpft aus. Er hatte damit gewiß nicht den letzten Platz im Wettbewerb der Aufmerksamkeitsökonomie auf dem "Make World"-Festival vom 18. bis 21. Oktober in München belegt. In den reflektierenden Plastikbuchstaben von Logos der Betriebe des öffentlichen Dienstes klebte der Schriftzug "Transnationale Republik" auf seinem signalfarbenen Anorak; vorn an der Brusttasche hing ein Personalausweis, der so vertraut wie selbstgemacht aussah. Während andernorts Politiker darüber diskutierten, in neue Dimensionen der Fälschungssicherheit vorzudringen, druckt das Einbürgerungsamt der Transnationalen Republik seine Ausweise mit dem Farbkopierer und verteilt sie wie Flugblätter. Am Stand auf dem Festival wirbt man für die Republikflucht wie der ADAC für neue Mitglieder - womit die Ernsthaftigkeit des Projekts noch nicht zwangsläufig diskreditiert wird. Der Staat als Club, die Republik als "Service Provider für Bürgerdienstleistungen", wie es auf der Website des Projekts heißt: das ist zumindest der Versuch, den global agierenden Konzernen eine global organisierte zivilgesellschaftliche Institution entgegenzusetzen; auch wenn sie nicht revolutionärer ist als Greenpeace.

Der Wunsch nach Veränderung im Gewand der Müllabfuhr: Das hatte ein bißchen von Kommunikationsguerrilla und ein bißchen von Marketing und natürlich eine klare Symbolik. Bis vor kurzem konnte man über die semiologischen Komponenten des politischen Aktivismus aus ästhetischen Gründen noch ganz froh sein und aus strategischen vielleicht sogar ganz optimistisch. Der Widerstand gegen die Globalisierung als Kampf gegen Images und Demontage von Logos schien nicht nur tatsächlich die Seele des modernen Kapitalismus zu treffen, sondern er verlieh auch dem Protest ein neues Outfit. Weil sich aber nach den Ereignissen vom 11. September wenn auch nicht alles, so doch zumindest manche Zeichen ziemlich verändert haben, ist auch der Angriff auf sie von heute auf morgen unmodern geworden.

Die Entführung der Symbole des Mainstream in rebellische Kontexte glich immer einem symbolpolitischen Selbstmordkommando - früher oder später würde der semiotische Guerrillero feststellen, daß ihm seine Gegenkampagne höchstens einen Job in einer Agentur verschaffte, die ihn bei der Revolte abwarb, als wäre die auch nur eines von vielen Konkurrenzunternehmen.

Daß die Brücken, die gebaut werden, damit das Kapital schneller vorankommt - wie die Soziologin und Globalisierungskritikerin Saskia Sassen das in ihrer Eröffnungsrede ausdrückte -, auch ihren Mißbrauch erlauben, war sehr lange die Hoffnung widerständiger Geister, die eine nicht nur von ökonomischen Parametern bestimmte Globalisierung wünschten. Widerstand als Programm lief immer auf der öffentlichen Hardware der kompakten Mehrheit, wurde stets auch durch die Funktionen kommerzieller Technologien ermöglicht - vom Sony-Camcorder bis zur SMS.

Ob aber dieser Gegenverkehr strukturell von Anfang an lediglich Ventilfunktion hatte oder doch Chancen barg, zur die Probleme zuspitzenden Bewegung zu werden, diese einst brennende Frage steht nicht mehr im Mittelpunkt. Das Netz wird enger, und wer immer mit alten oder neuen Medien, mit Slogans oder Viren, mit Aufklärung oder Desinformation gegen die Dominanz kapitalistischer Dogmen protestiert hat, wird sehr bald merken, daß die Diskussion um die richtigen Werkzeuge des Dissenses der Diskussion um den Zugang (etwa auch von Terroristen) zu diesen Werkzeugen selbst weichen wird.

Natürlich kann man die Rückkehr aus dem Symbolisch-Abstrakten zum Konkreten auch als Chance sehen, wie etwa der niederländische Netzaktivist Geert Lovink: "Wir feiern das Ende der Antiglobalisierungsbewegung. Jemand anderes hat sie in die Luft gejagt. Die melancholische Energie kann jetzt umgeschaltet werden, um etwas Zielgerichteteres zu beginnen."

Es war die positive Überraschung dieser Konferenz, daß sie angesichts des plötzlichen Sogs hin zum Praktischen, weg vom Symbolischen nicht in Resignation verfiel. Das Spektrum der Perspektiven hätte kaum größer sein können, was sich auch an der Zusammensetzung der verschiedenen Panels ablesen ließ: Da diskutierten Gewerkschaftler mit Netzkünstlern, Post-Operaisten mit Zapatisten, Venture-Kapitalisten mit Medienwissenschaftlern, Programmierer mit Straßenkämpfern - und trotzdem sah es immer ein wenig so aus, als träten die Teilnehmer allesamt für eine gemeinsame Sache ein.

Man mag vor einer derartigen Homogenität unter anderen Umständen erschrecken, weil hier, könnte man meinen, Differenzen in einem Meer von Toleranz untergehen. Bei "Make World" aber vermittelten die Teilnehmer einander erfolgreich den Eindruck, als ob sich der globale Protest nicht am Ende befinde, sondern gewissermaßen am Nullpunkt, bereit, sich neu zu formieren.

Der Londoner Künstler Harwood fand dafür das Bild vom Widerstand, der analog zu Spannungs-, Verstärkungs- und Leitungsvorgängen in der Elektronik zu betrachten sei: als Indikator von Aktivität. Was man derzeit an sich dem Widerstand zurechnenden Aktivitäten wie auf einem Monitor ablesen kann, ist vielleicht kein gutes Zeichen, aber ein deutliches. Trotz aller der Szene eigenen Beteuerungen der Vielfalt von Konzepten, Ansätzen und Protestmotiven, die vor und nach Genua von den Massenmedien ja gerne als Manko der neuen Bewegungen, weil mit dem Makel des Diffusen behaftet, ausgelegt wurden, scheint man immer mehr der Ansicht zu sein, daß jetzt nicht die Zeit für Grabenkämpfe sei.

Wahrscheinlich konnten auch an den vier Tagen in München nicht alle Teilnehmer etwas mit den Vorstellungen der anderen anfangen - stilistisch, inhaltlich oder aufgrund der häufigen bei Symbolpolitik und ihren Umkehrungen besonders naheliegenden Verwechslung von beidem. Da konnte einereits Valery Rey Alzaga von der Kampagne "Justice for Janitors" immer wieder an ihre "brothers and sisters" appellieren, ohne daß sich jemand öffentlich vereinnahmt fühlte, und andererseits Kodwo Eshun seinen feinsinnigen Vortrag über "Strategien und Ästhetiken des Ortes in der elektronischen Musik" halten, ohne als Relativist beschimpft zu werden.

Es lag wohl auch an dieser integrativen Kraft des Festivals, daß sich die Teilnehmer auf den Panels weit mehr als üblich für die Texte und Ideen der anderen interessierten. Die Konferenz von einem "Virtualienmarkt" begleiten zu lassen, auf dem sich einzelne Initiativen an verschiedenen Messeständen präsentieren konnten, war zwar vermutlich ursprünglich als ironischer Fingerzeig auf das Ritual akademischer Konferenzen selbst geplant, die oft genug zu "Theorie-Messen" (Sebastian Lütgert) verkommen.

Im Vergleich zu den Aktienbörsen reagierten die Märkte des Protests auf "Make World" erfreulich nüchtern. Zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Gesellschaft der Kontrolle zu einer Gesellschaft der Panik entwickelt, wie es Franco Berardi ausdrückte, kehren sich die Zuschreibungen emotionaler Klischees in bemerkenswerter Weise um: Die als hysterisch und pathetisch verschrieene Linke findet zu alter analytischer Stärke zurück, während vermeintliche Realpolitiker und rationell handelnde Aktionäre vor Panik wild und blind werden. "Die Macht kann die Komplexität der vernetzten Gesellschaft nicht mehr kontrollieren. Deshalb verfallen diejenigen in Panik, die die Macht gepachtet haben. Wir sollten uns von dieser Panik nicht anstecken lassen", heißt es in der am Rande des Festivals verabschiedeten "Volksbad-Erklärung".

Wem die aktuellen Forderungen der Protestbewegung nach globaler Staatsbürgerschaft, garantiertem Mindesteinkommen und grenzenloser Freiheit immer noch nach gutgemeinter Weltfremdheit klingen, der verkennt, daß jenseits aller Bekundungen guten Willens und Anklagen böser Ungerechtigkeiten, jenseits aller zum Mantra geronnenen antikapitalistischen Rhetorik in den besten Vorträgen auf "Make World" Stimmen hörbar wurden, die vom dringend nötigen Gestaltungswillen in einer sich ohnehin rapide verändernden Welt sprachen, der weder auf Ideologie noch auf Reformismus setzt. Es kann gut sein, daß der Netzwissenschaftler Reinhold Grether recht hat, wenn er sagt: "Um die alte Welt zur Strecke zu bringen, brauchen wir ein Prinzip, das sie nicht versteht, wie das Prinzip der Entfeindung, das das römische Weltreich besiegt hat."

Man kann das auch als Drohung verstehen: Es war ja immer eine Stärke des Kapitalismus, sein häßliches Gesicht durch bunte Masken zu tarnen und seine Kontrollfunktionen als Freiheit zu verkaufen. Wenn das "Empire", wie die globale kapitalistische Grundordnung mit einem Buchtitel Antonio Negris derzeit gerne genannt wird, die Fähigkeit verliert, seine repressiven Elemente zu domestizieren, könnte es schon sein, daß die Versprechen des Marktes einmal nicht mehr genügen, die ewig Enttäuschten im Zaum zu halten.

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Welt ist nicht genug
October 25th, 2001