Staatenlose und Grenzverächter

Globalisierungsgegnerschaft als Performance:

Das Festival "0YES" in München

Von Rüdiger Suchsland

Zwei Männer bewegen sich ruckartig auf der meterhohen Videoleinwand. Über Lautsprecher hört man eine italienisch sprechende Stimme. Sie stammt von Antonio Negri, jedenfalls darf man das vermuten, denn auf dem Programm ist eine Videokonferenz mit dem in seiner Heimat zu langer Haft verurteilten Theoretiker angekündigt. Die beiden auf der Leinwand könnten seine Übersetzer sein. Aber was macht der Mann, der in der Bühnenecke der Münchner Muffathalle so konzentriert in die Tasten seines Laptop haut? Vielleicht ist das ganze ja auch die Performance einer medienkritischen Künstlergruppe aus Bulgarien, die sich gerade in diesem Moment darüber lustig macht, wie etwa hundert Zuschauer konzentriert auf das hören, was da kaum verständlich durch den Saal quäkt. Und wieder einmal fühlt man sich mitten im Zustand höchstpersönlicher Entfremdung ertappt.

Unsicherheit und Durcheinander waren zum Teil bewusstes Konzept der Konferenz "0YES. Border = 0 Location = YES", die vier Tage lang ein Programm aus Vorträgen, Diskussionen, Medienkunst und einem "Virtualienmarkt", einem Austellungspark verschiedener Kulturprojekte, unter dem Titel "Make-World" zu einem Festival verband. Gemeinsame Grundlage war die Infragestellung von Grenzen und die vor allem als starkes Gefühl vorhandene Skepsis gegen wirtschaftliche Globalisierung und jene bis vor kurzem dominante "Utopie des Status Quo", die sich die Zukunft nur als verewigte und gesteigerte Gegenwart vorstellen kann - zusätzlich geschürt wurde alles noch durch "die aktuellen Ereignisse."

So war es durchaus Konzept, durch die heterogene Mischung des Programms die Unübersichtlichkeit der Weltlage zu spiegeln, die Tatsache, dass ein jeder aus Perspektiven heraus wahrnimmt, denkt und handelt. Eines der Kunstwerke, Shu Lea Cheangs Computerinstallationen trug den Titel "Jeder ist ein Experte", und von der Übertragung von Joseph Beuys' Forderung nach Demokratisierung der Künste auf alle anderen Bereiche einmal abgesehen, hätte das auch ein weiterer Titel des Festivals sein können, dass aus der Grenzüberschreitung ein allgemeines Programm machte.

Zugleich wurde die Veranstaltung selbst zum Spiegel der Unentschiedenheit der Anti-Globalisierungsbewegung, von deren zig Facetten sich hier einige wiederfanden: Einerseits stellt man das Konzept fester Grenzen sofort in Frage, wenn über Migrationsfragen debattiert wird, andererseits bekämpft man genau jene Entgrenzung, wenn sie in ökonomischer Gestalt daherkommt. Auch mit dem Loblied auf lokale Differenzen befindet man sich unverhofft auf Linie mit Edmund Stoiber, der immer wieder gern die "Kraft der Regionen" beschwört.

Wer sich da einige Klärung oder zumindest die offene Diskussion solcher Widersprüche erhofft hatte, sah sich mild enttäuscht. Auch der Eröffnungsvortrag der Soziologin Saskia Sassen (New York) stand ganz im Bann des "11. September-Syndrom" (Ulrich Beck), also jener Neigung vieler Intellektueller zu behaupten, seit der Attentate sei "alles anders", und andererseits zu erklären, man selbst habe ja dies und jenes schon "vorher" geschrieben. "Ich habe schon früher gesagt, dass es unmöglich ist, sich hinter den Mauern des Wohlstandes zu verstecken."

Spannend war vor allem eine nachfolgende Diskussion Sassens mit dem Australier Ghassan Hage, der zuvor etwas zu herzig für einen "mutterschößlichen" Bürgerbegriff und eine "Ökonomie der Hoffnung" plädiert hatte. Während Hage es ablehnte, sich als Intellektueller überhaupt darauf einzulassen, "politisch zu denken", und damit implizit eine Art neuer "Antipolitik" (Györgi Konrad) formulierte, verteidigte Sassen das klassisch westeuropäische Konzept des engagierten Intellektuellen: "Vielleicht bin ich etwas idealistisch, aber es gibt auch konstruktive Formen von Politik." Bemerkenswert war, das es Hage war, der zu seiner Ablehnung aller Politik ausgerechnet auf Carl Schmitts Definition der Politik zurückgriff: "Politik heißt immer Freund-Feind-Verhältnis." Die benötigte "Humanisierung des Feindes" sei nur jenseits aller Politik denkbar. Sassen hingegen hielt es mehr mit Hannah Arendts emphatischem Politikbegriff und forderte Bürgerengagement: "Zunehmend bringen auch Amerikaner ihre Regierung vor Gericht. Auch der 11.September wird eine weitere Öffnung des amerikanischen Horizonts bewirken."

"Foucault, Foucault, Foucault, Foucault, Foucault..." skandierte kurz darauf minutenlang eine junge Frau auf der Bühne – die Punk-Performance der Wiener VolxTheaterKarawane wirkte kurz darauf als bitter sarkastischer Kommentar nicht nur zu Sassens Beitrag. Im Clash solch verschiedener Darbietung lag der Reiz des Festivals. Gerade unter den Projekten des "Virtualienmarkt" konnte man einige Entdeckungen machen. Zum Beispiel die "Transnationale Republik". Halb ernst, halb ironisch hat man sich in dieser Mischung aus Kunst- und Politaktion zu einem "Transnationalstaat" zusammengeschlossen, gibt Pässe aus, und hat mittlerweile soviel Staatsbürger wie der Vatikan. Die ökonomische Globalisierung soll sozusagen politisch überholt werden. "Wozu braucht man heute noch ein Territorium?" fragt Georg Zoche, einer der Initiatoren, "Wir sind ein Staat. Wir machen einfach nur mit der Politik das, was in der Wirtschaft an der Tagesordnung ist." Die eine Pointe der "Transnationalen Republik" liegt darin, dass sie Pässe auch Staatenlosen anbietet, und unter anderem Aufnahmeanträge für EU und UNO in Erwägung zieht, die andere, darin, dass hier auf ebenso originelle wie intelligente Weise gefragt wird, was eigentlich einen Staat ausmacht. Und im Versuch, einen Staat ohne Territorium zu definieren, "border" infrage zu stellen, ohne sich in eine andere "location" flüchten zu müssen, ist man dem Festival voraus.

Nehmen wir einmal an, es war tatsächlich Negri, der da zum Abschluß zu hören war. Gerade ein Beitrag von ihm zum Festivaltitel hätte ja seinen Charme gehabt: Ob er wohl auch ein Hohelied seiner derzeitigen Location angestimmt hätte? Aber danach wurde er gar nicht gefragt. Stattdessen hörte man, dass Grenzen etwas Schlechtes sind. Und der Krieg eine neue Form sei, Grenzen zu errichten. Und für einen Moment dachte man, dass etwas mehr Streit dem Festival ganz gut getan hätte, weil zuviel Einigkeit eben niemanden klüger macht. Aber wahrscheinlich war es doch nicht Negri.

Frankfurter Rundschau
October 24th, 2001